Rede zum Haushalt 2022 am 16.12.2021 im Rat der Stadt Wedel
Eigentlich wollte ich anders anfangen, aber nach zwei der eben gehörten Reden geht das nicht mehr. Ich komme ja nicht aus dem Völkerrecht, nicht mal aus dem Verwaltungsrecht, sondern eher vom Theater. Dort spielen Assoziationen und Bilder eine große Rolle, und eben setzte bei mir das Kopfkino ein. Als Erstes musste ich an ein Theaterstück von Rolf Hochhuth denken. Es heißt „McKinsey kommt“. Dann fiel mir Ernest Hemingway ein, und ich sah plötzlich externe Großwildjäger durch die die Flure des Rathauses streifen, um heilige Kühe zu erlegen.
Die gestrige Absage des Neujahrsempfangs, der auch immer ein Zeichen des Aufbruchs in eine hoffentlich bessere Zukunft sein soll, hat daran erinnert, dass wir nicht nur haushaltstechnisch in schweren Zeiten leben.
„Die Corona-Pandemie ist vor allem eine medizinische und gesundheitliche Krise, aber auch eine ökonomische und soziale. Und meistens trifft eine Krise die Schwachen der Gesellschaft am härtesten. Die soziale Spaltung hat sich vertieft, und die Armen sind ärmer, die Reichen reicher geworden.“
„In dieser Situation kommt der kommunalen Daseinsvorsorge eine größere Bedeutung als bisher zu. Gerade jetzt sind die Menschen auf eine funktionierende soziale Infrastruktur und personell und sachlich gut ausgestattete Schulen, Kitas und Jugendeinrichtungen angewiesen. Spätestens jetzt sind viele sogenannte „freiwillige Leistungen“ keine Segnungen, keine Wohltaten mehr, als die sie gern diffamiert werden, sondern geradezu Pflichtaufgaben einer Kommune, die Verantwortung für alle in ihr lebenden Menschen übernimmt.“
Daran hat sich seit meiner vorherigen Haushaltsrede im März 2021 nichts geändert, und deshalb habe ich mir – unbescheidenerweise – erlaubt, die grundsätzliche Einleitung aus eben dieser wörtlich zu übernehmen. Ich könnte jetzt so weitermachen und auch den kompletten Rest der alten Rede vortragen, denn erstens stimmt alles damals gesagte – und zweitens würde vermutlich niemand außer mir merken, dass ich gerade aus einer neun Monate alten Rede zitiere.
„Der Haushalt mag für manche Ausdruck einer wahren Ausgabenorgie sein“, habe ich im März an dieser Stelle gesagt, und wenn ich die heute vorgelegten Anträge sehe, so gilt auch das noch. Und ein letztes Zitat: „Die strukturelle Konsolidierung dürfte für einige eine willkommene Gelegenheit sein, seit langem ungeliebte Aufgaben loszuwerden.“
Auch der Verdacht trifft heute noch zu, und ich hätte einfach aufs Protokoll der Ratssitzung vom 25.3. verweisen können. Allerdings unterscheidet sich der aktuelle Haushalt in einem für meine Fraktion sehr wichtigen Punkt vom vorherigen:
Er sieht eine erhebliche Erhöhung der Realsteuern vor. Kopfzerbrechen und die oft angeführten Bauchschmerzen hat uns vor allem die Erhöhung der Grundsteuer bereitet, die nicht nur wohlhabende Villenbesitzer, sondern auch nicht so zahlungskräftige Eigentümer belastet, denen demnächst auch noch eine kostspielige energetische Sanierung auferlegt wird. Und die zusätzliche Belastung trifft auch und gerade besonders Mieter. Dies in einer Situation gefährdeter Einkommen durch die ökonomischen Folgen der Pandemie und angesichts rapide steigender Energiekosten in einer Stadt mit chronisch hohen Mieten und angespanntem Wohnungsmarkt.
Da es beim Haushalt in erster Linie um Zahlen geht, möchte ich Ihnen ein paar zumuten, die nicht darin stehen. Sie bestimmen für meine Fraktion, wie wir diesen Haushalt bewerten – und da müssen Sie jetzt durch.
Laut dem aktuellen Armutsbericht 2021 des Paritätischen Gesamtverbands hat die Armutsquote mit 16,1% (das sind rechnerisch 13,4 Mio Menschen!) im Pandemiejahr 2020 einen neuen Höchststand erreicht. Bei Selbstständigen ist sie von 9 auf 13% gestiegen. Der Anteil armer Menschen beträgt bei Haushalten mit drei und mehr Kindern 30,9 und bei Alleinerziehenden 40,5%, bei Erwerbslosen 52%. Laut der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion ist jeder vierte Mieterhaushalt armutsgefährdet.
Wenn wir der Erhöhung trotzdem schweren Herzens (und jedenfalls ich persönlich nicht ohne ein schlechtes Gewissen) zustimmen, so liegt das vor allem an der prekären finanziellen Situation der Stadt und an unserer keineswegs mühelos erlangten Einsicht in die bittere Notwendigkeit, diese Lage zu verbessern und damit die gerade jetzt dringend gebotene Handlungsfähigkeit der Stadt zu erhalten.
Wir haben in der Fraktion lange und manchmal auch heftig darüber diskutiert und sind nun der Auffassung, dass es gerechter ist, wenn die Lasten der Haushaltssanierung möglichst breit verteilt werden. Gerechter jedenfalls, als wenn sie durch die Kürzung oder gar Streichung wichtiger Leistungen vor allem diejenigen treffen, die auf diese Leistungen in besonderem Maße angewiesen sind – mit vielleicht wesentlich gravierenderen finanziellen Folgen als durch die gestiegene Grundsteuer.
Hinzu kommt ein unerschütterlicher Optimismus. Wir hoffen auf eine ausgleichende Wirkung der Grundsteuerreform. So kann die für 2022 geplante Neubewertung des gesamten Grundbesitzes bei Aufkommensneutralität zu einer gerechteren Verteilung der Lasten führen. Das gilt auch für die Einführung einer Grundsteuer C mit einem höheren Hebesatz für baureife unbebaute Grundstücke. Vor allem aber setzen wir auf die Entlastung des geförderten und genossenschaftlichen Wohnungsbaus durch einen nennenswerten Abschlag beim Messbetrag.
Unsere Zuversicht geht leider nicht so weit, darauf zu hoffen, dass etwas umgesetzt wird, was außer der LINKEN nur noch eine in diesem Rat vertretene Partei fordert: die Umlagefähigkeit der Grundsteuer auf die Mieten abzuschaffen.
Ein mehrere hundert Seiten langer Haushalt ist nie nur gut oder nur schlecht, es gibt aus der Sicht eines jeden Betrachters immer Licht und Schatten. Wir haben in den Ausschüssen schon mal darüber diskutiert, ob dieser oder jener Zuschussempfänger einige hundert Euro mehr oder weniger erhalten soll, und zugleich Millionen in einen noch heute brachliegenden Hafen gesteckt.
Da ich aus dem Ausschuss für Bildung, Kultur und Sport komme, haben wir erstaunt registriert, dass bei einzelnen Produktgruppen die angegebenen strategischen Oberziele auf einem alten Stand sind: So ist etwa bei den Schulen noch von „gerechten Bildungschancen“ die Rede, obwohl wir lange, auswärtige Workshops mit der Erarbeitung neuer Ziele verbracht und endlich „gleiche Bildungschancen“ als eines davon formuliert haben.
Manchmal ist es ganz hilfreich zu wissen, wer mit welchen Argumenten gegen diesen Haushalt stimmt, um eine Ahnung davon zu bekommen, dass er im Großen und Ganzen gar nicht so übel ist. Und manchmal tragen auch in letzter Minute eingereichte Anträge dazu bei, sich vollends darüber klarzuwerden, was in diesem Haushalt erhaltenswert ist.
Die Fraktion DIE LINKE stimmt deshalb diesem Haushalt zu.
Dr. Detlef Murphy